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Die zweite vierte industrielle Revolution

Zehn Jahre Industrie 4.0

10 Jahre alt wird dieser Tage nicht nur der Fachwelt Verlag. Auch das Konzept der Industrie 4.0 stammt aus dem Jahr 2013. Auf der damaligen Hannover Messe, mit dem Motto „Integrated Industry“, wurde durch die Forschungsunion Wirtschaft – Wissenschaft des BMBF ein Abschlussbericht vorgelegt, der mit dem Titel „Umsetzungsempfehlungen für das Zukunftsprojekt Industrie 4.0“ versehen war. Mit diesem Bericht sowie der von BITKOM, VDMA und ZVEI gegründeten Plattform Industrie 4.0 wurde vor ziemlich genau 10 Jahren ein entscheidender Startschuss für die Entwicklung einer durchdigitalisierten Industrie gegeben.

Und wo stehen wir mit Industrie 4.0 heute?

Und diese Entwicklung hält bis heute an. Denn angekommen sind wir laut einschlägigen Studien noch lange nicht. Einer Statista-Studie zufolge gaben im Jahr 2022 noch ganze 35 Prozent der befragten deutschen Unternehmen an, bisher keinerlei Industrie 4.0-Technologien zu nutzen. Einer weiteren Verbreitung solcher Technologien stehen meist fehlende finanzielle Mittel oder der Fachkräftemangel im Weg. Aber auch ein anderer Punkt wird immer wieder erwähnt: mangelnde Interoperabilität. Die unterschiedlichen Steuerungs- oder Datensysteme, die sich in deutschen Werkshallen finden, sprechen nicht dieselbe Sprache. Dadurch wird die durchgängige Vernetzung von Komponenten, cyberphysischen Systemen, Anlagen, Standorten und Menschen massiv erschwert

Die mühsame Arbeit von Organisationen wie der Industrial Digital Twin Association oder der OPC-UA Foundation sind heute zwar Ausdruck für das wachsende Problembewusstsein in Sachen einer einheitlichen Semantik, dennoch kommen viele solcher Vorhaben meist nur schleppend voran. Einen neuen Weg – der die Arbeit der zuvor genannten nicht ersetzt, sondern ergänzt – geht nun die Non-Profit-Organisation UniversalAutomation.Org. Zehn Jahre nach Beginn von Industrie 4.0 propagieren die darin versammelten Industrieunternehmen, Hersteller, Maschinenbauer, Start-Ups und Universitäten einen herstellerunabhängigen Automatisierungsansatz, der darauf ausgelegt ist, die in Industrie 4.0 angelegten Potenziale endlich freizusetzen. Der Grundgedanke: Die herstellerspezifische Bindung zwischen SPS-Steuerung und Entwicklungsumgebung wird mithilfe eines industrieweit geteilten Betriebssystems gelöst. Heute, zehn Jahre später, ist das möglich.

Der Klassiker: Automatisieren mit IEC61131

In der Automatisierungswelt sind die SPS-Steuerung und die mit ihr verbundene Art des Automatisierens gewissermaßen ein Evergreen. Und das zurecht! Nachdem die SPS-Steuerung das Automatisieren in den 1970er Jahren praktisch grundlegend revolutioniert hatte, kommt seither praktisch keine industrielle Maschine mehr ohne sie aus. Die Grundlagen dieser Automatisierungsweise oder -logik sind in der internationalen IEC Norm 61131 beschrieben.

Kennzeichnend für eine auf IEC61131 basierende Automatisierung ist das, was mit dem Bild der sogenannten Automatisierungspyramide gemeint ist. Oben, an der Spitze, sitzt eine SPS-Steuerung, deren einprogrammierte Logik die untergeordneten Schichten der Pyramide, also die Antriebstechnik und damit auch die Mechanik einer Maschine orchestriert. Eingangssignale und Ausgangssignale treffen an einem Ort, der SPS-Steuerung zusammen, und der komplette Code wird dort berechnet.

Alle Befehle kommen von der Spitze

Eine weitere Besonderheit eines Automatisierungsansatzes nach IEC61131 ist weniger den technischen Eigenschaften der SPS-Steuerung, als vielmehr einer für die Industrie typischen, wirtschaftlichen Entwicklung geschuldet. Und das sind die proprietären Systeme. Klassischerweise sind bei einer SPS-Steuerung Hardware und Software herstellerspezifisch aneinander gebunden. Möchte man SPS von Hersteller A programmieren, dann muss man das auch innerhalb der Entwicklungsumgebung von Hersteller A tun. Und zwar mit einer Entwicklungsumgebung der richtigen Generation. Somit sind die Lebenszyklen von Hardware und Software ebenfalls aneinander gebunden. Wird eine Hardware grundlegend innoviert, benötige ich immer auch eine neue Software. Wird die alte Hardware dann abgekündigt, bin ich gezwungen, die identische Applikation auf der neuen Software nochmal zu erstellen.

Mehr als nur ein Paradigma: 
Automatisierung kann auch anders gedacht werden


Aber Automatisieren geht auch anders. Bereits im Jahr 2005 wurde mit der IEC61499 eine Norm definiert, die in nahezu prophetischer Manier die modernen Anforderungen wandelbarer und vernetzter Maschinen des IIoT-Zeitalters vorausgeahnt hat – und heute ein Revival erlebt. Die Abhängigkeit von proprietären Systemen wird darin aufgelöst und die Software von der Hardware entkoppelt.

Im Gegensatz zu IEC61131 wird in IEC61499 ein Ansatz vorgeschlagen, bei dem die Steuerungslogik nicht länger Sache eines zentralen Controllers ist, sondern die Programmstrukturen frei auf sämtliche CPUs und Feldgeräte mit integriertem Prozessor aufgeteilt werden können. Gemäß IEC61499 wird dabei ein objektorientierter Automatisierungsansatz verfolgt, bei dem mit herstellerunabhängigen und leicht wiederzuverwendenden Softwareobjekten gearbeitet wird. 

Diese Softwareobjekte, ähnlich den bekannten Funktionsblöcken, bilden je nach Bedarf die Funktionsweise einzelner Geräte – zum Beispiel einen Motor – oder auch zusammenhängende Anwendungen – zum Beispiel eine ganze Abfüllanlage – ab. Dass die Funktionalität in einem Softwareobjekt schon vor dem eigentlichen Engineering-Prozess gekapselt werden kann, hat zur Folge, dass sich die Arbeitsschritte Programmierung und Engineering nun deutlicher voneinander unterscheiden. Insbesondere das Engineering (für den Anwendungs- oder Projektingenieur) gestaltet sich erheblich einfacher. Zusätzlich wird die herstellerunabhängige Wiederverwendbarkeit der Softwareobjekte – und damit das weniger fehleranfällige Engineering – dadurch erleichtert, dass bei IEC61499 keine globalen Variablen zur Anwendung kommen.

Mehr Informationen zu einem herstellerunabhängigen Automatisierungsansatz nach IEC61499 finden 

Runtime und Buildtime

Vereinfacht gesagt wird mit der IEC61499 also möglich, was in der IT-Welt schon längst zum Standard gehört. Solange einzelne Komponenten mit CPU ein gemeinsames Betriebssystem teilen, lassen sich sämtliche für dieses Betriebssystem entworfenen Softwareanwendungen unabhängig von der eingesetzten Hardware nutzen (entscheidend für die Auswahl der Hardware ist damit nur die Funktionalität und nicht der Hersteller). 

Um die Verbreitung eines gemeinsamen Betriebssystems für Automatisierungskomponenten weiter voranzutreiben, wurde Ende 2021 die unabhängige Non-Profit-Organisation UniversalAutomation.Org gegründet. Mitglieder sind neben namhaften Industrieunternehmen auch Hersteller, OEMs, Systemintegratoren, Start-Ups und Universitäten. In Form einer Shared Source verwaltet und pflegt die Organisation die Referenzimplementierung einer auf IEC61499 basierenden Runtime-Umgebung. Diese fungiert sozusagen als hardwareübergreifendes Betriebssystem für Automatisierungskomponenten.

Zusätzlich zum Betriebssystem braucht es für die Modellierung von automatisierten Anwendungen dann noch ein Engineering-Tool, das den geschilderten Anforderungen gerecht wird. Als erster großer Hersteller der Branche hat der Tech-Konzern Schneider Electric bereits im Jahr 2020 mit dem EcoStruxure Automation Expert ein solches Softwaretool auf den Markt gebracht. Unter anderem in einem gemeinsamen Proof-of-Concept mit dem deutschen Maschinenbauer GEA konnte die Industrietauglichkeit des Engineering-Tools auch in der Praxis eindrucksvoll unter Beweis gestellt werden.

10 Jahre danach: Stehen wir am Beginn einer zweiten vierten industriellen Revolution?

Heute, zehn Jahre nach dem Startschuss von Industrie 4.0 – und zehn Jahre nach Gründung des Fachwelt Verlags – stehen wir also an einer Art Wendepunkt für die Automatisierung. Dabei geht es weniger um die technologischen Möglichkeiten, als vielmehr um die Frage: Wie wollen wir künftig automatisieren? Gerade für wandelbare und digital vernetzte Anlagen bringt ein herstellerunabhängiger Automatisierungsansatz bedeutende Vorteile: Umrüstungen sind schneller möglich, neue ingenieurstechnische Freiheiten entstehen und unterschiedliche Systeme können leichter in Einklang miteinander gebracht werden. Wenn also hohe Komplexität und mangelnde Interoperabilität einer weiteren Verbreitung von Industrie 4.0 noch immer im Wege stehen, dann kann ein herstellerunabhängiger Automatisierungsansatz hier sicher neue Voraussetzungen schaffen. Vielleicht erleben wir heute ja den Beginn einer zweiten vierten industriellen Revolution.