INTERVIEW

 Interview  

Digitalisierung von Brownfield-Anlagen

PROZESSTECHNIK unterhielt sich mit Jan Rougoor, Gordon Meng und Andoni Gonzalo von Siemens über die dringende Notwendigkeit sowie die Herausforderungen der Digitalisierung von Bestandsanlagen der Prozesstechnik. Auch die bedeutende Rolle, die dem digitalen Zwilling in diesem Zusammenhang zukommt, war Thema unseres Interviews.

Jan Rougoor
Leiter Produktmanagement 

Siemens PA Software

Gordon Meng
Leiter Siemens PA Software in China

Andoni Gonzalo
Produktmanager Digital Twin Siemens PA Software

 PROZESSTECHNIK:  Was ist Ihrer Meinung nach der Haupt-Antrieb für Betreiber, um Brownfield-Anlagen zu digitalisieren?

Gordon Meng: Viele Kunden wollen ihre Bestandsanlage auf die nächste Stufe heben: Ehrgeizige Führungskräfte schauen nicht nur auf den Status quo, sondern wollen mit Blick auf die kommenden Jahrzehnte auf einen nachhaltigen Verbesserungspfad kommen. Die Nutzung von Daten ist der Schlüssel dazu, um durch Automatisierung einen hocheffizienten Anlagenbetrieb zu erreichen. Auch die Aspekte Sicherheit und Nachhaltigkeit spielen eine Rolle – schon deshalb, weil die gesetzlichen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen dies fordern. Und schließlich wollen die Betreiber die Profitabilität ihrer Anlage steigern.


 PROZESSTECHNIK:   In der Prozessindustrie macht sich in jüngster Zeit eine Art „Digitalisierungsmüdigkeit“ breit – viele Projekte werden auf den Prüfstand gestellt, um Aufwand und Nutzen neu zu bewerten. Was ist der Grund dafür?

Jan Rougoor: Ja, das ist aktuell der „Elefant im Raum“: Viele Unternehmen sind mit der Vorstellung in solche Projekte gestartet, ihre kompletten Prozesse zu digitalisieren und alle im Prozess anfallenden Daten irgendwie nutzbar zu machen. Das ist meiner Meinung nach zu hoch gegriffen. Man sollte sich von Anfang an auf die Bereiche der Anlage konzentrieren, in denen der größte Nutzen durch Digitalisierung entsteht: Beispielsweise, um Betriebs- oder Wartungsprobleme zu lösen. Wir empfehlen zunächst die Hotspots zu identifizieren, an denen Daten benötigt werden.

Andoni Gonzalo: Die anfänglichen Kosten der Digitalisierung sind tatsächlich eine große Hürde. Dazu kommt, dass oft nicht klar ist, wann der Return-on-Invest erreicht sein wird. Wer denkt beispielsweise daran, dass mit vorausschauender Wartung auch die Zahl der Unfälle sinken kann, wenn weniger ungeplante Wartungseinsätze durchgeführt werden müssen? Digitalisierung muss man langfristig betrachten: Je länger der Investitionshorizont, desto größer wird die Investitionsrendite sein. 

Gordon Meng: Wir wissen, dass Digitalisierung über den gesamten Lebenszyklus einer Anlage dabei helfen kann erhebliche Kosten zu sparen: Höhere Effizienz, weniger Ausfallzeiten, weniger Betriebsfehler sind hier die Hebel. Und um diese Potenziale zu heben, haben wir in den vergangenen Jahren eine sehr gute Methodik entwickelt: Mit einem systematischen und kosteneffektiven Ansatz erzeugen wir aus vorhandenen Informationen und verschiedenen Datenquellen einen digitalien Zwilling der Brownfield-Anlage. Dieser kann dann zur Prozessoptimierung genutzt werden. 


 PROZESSTECHNIK:   Welche Bedeutung hat die Digitalisierung des Brownfields im Zuge der Digitalisierung der Prozessindustrie?

Jan Rougoor: Bei Neuanlagen ist die weitgehende Digitalisierung bereits Standard. Daten aus der Planung werden selbstverständlich auch in der Betriebsphase im digitalen Zwilling genutzt. Doch vor allem in der Chemie sowie in der Öl- und Gasindustrie dominieren Anlagen das Bild, die bereits vielen Jahren – oft sogar mehreren Jahrzehnten – betrieben werden. Bei diesen Brownfield-Anlagen besteht das größte Optimierungspotenzial. Ein Schlüssel dafür ist es, vorhandene Daten zugänglich zu machen, um mit diesen die Leistung der Anlage zu verbessern. 

Gordon Meng: Wir schätzen, dass wir durch den Einsatz eines digitalen Zwillings in Brownfield-Anlagen in der Betriebsphase Effizienzsteigerungen von 20 % erzielen können. 


 PROZESSTECHNIK:   Warum braucht es dafür einen digitalen Zwilling?

Andoni Gonzalo: Ein digitaler Zwilling ermöglicht es, den realen Betriebsprozess in Echtzeit abzubilden und zu simulieren – er nutzt beispielsweise Planungsdaten aus unterschiedlichen Quellen und verbindet diese mit historischen und aktuellen Daten aus dem Anlagenbetrieb. Dies ermöglicht es, verschiedene Szenarien zu testen und Optimierungen vorzunehmen. Das führt nicht nur dazu, dass ungeplante Stillstände vermieden werden können, sondern zahlt sich auch durch eine höhere Sicherheit und weniger Unfälle aus. Beispielsweise, weil Anlagenpersonal an virtuellen 3D-Modellen geschult werden können. Wichtig ist dabei, dass der digitale Zwilling auf dem aktuellen Stand gehalten wird – wir sprechen dann vom „Evergreen Digital Twin“. 

Jan Rougoor: Das ist ein ganz wichtiger Aspekt, denn häufig wird der Digitale Zwilling zu klein gedacht: Als aktuelle Dokumentation des As-built-Zustands einer Anlage. Das hilft zwar auch, um beispielsweise Umbauten und Erweiterungen effektiv planen zu können, doch der wirkliche Nutzen entsteht dann, wenn der Digitale Zwilling laufend produktiv genutzt wird. Beispielsweise, indem Konstruktions- und Ausrüstungsdaten und historischen Wartungsdaten mit aktuellen Sensorinformationen kombiniert werden, um die Ursachen für den regelmäßigen Ausfall von Anlagenkomponenten, beispielsweise einer Pumpe, zu ergründen. So lässt sich beispielsweise durch einen Standort-übergreifenden Vergleich mehrerer Pumpenanwendungen feststellen, ob die Ursache für einen regelmäßigen Ausfall vielleicht eine ungünstige Aufstellung ist. Wenn dies geändert werden kann und dadurch Anlagenstillstände vermieden werden, entsteht ein großer Nutzen.


 PROZESSTECHNIK:   Welches sind die größten Hürden auf dem Weg zum digitalen Zwilling?

Jan Rougoor: Ein Hauptproblem besteht in geschlossenen und von Anbieter zu Anbieter proprietären Datenformaten. Das kann eine echte Herausforderung sein. Offene Systeme, die einen Datenaustausch erlauben, sind heute ein Muss! Man kann sich als Betreiber für das beste System entscheiden, aber dies sollte nie zu Lasten der Möglichkeit gehen, Daten auszutauschen. Dazu braucht es Schnittstellen in die Systeme. Eine weitere Hürde besteht darin, dass viele Anlagen-Fließblider, die P&IDs, immer noch auf der Basis von Symbolbibliotheken und in Bezug auf grafische Designstandards gezeichnet werden – dann fehlen der verfahrenstechnische Kontext und auch die Verbindung zu den Daten. Doch neue Technologien, darunter auch künstliche Intelligenz, ermöglichen es, Altdaten immer besser zu interpretieren.

Gordon Meng: Die Qualität der Daten variiert je nach Projekt und Datenquelle erheblich. Oft fehlt es an konsistenten Daten und am Datenkontext. Und digitale Modelle brauchen Daten in einer hohen Qualität. 

Andoni Gonzalo: Ein wesentlicher Aspekt ist die Integration verschiedener Systeme: Ob unser digitaler Zwilling auf Basis von PlantSight, die Datendrehscheibe COMOS, die Planungs- und Betriebsdaten zusammenführt, oder auch externe Systeme bis hin zu ERP-Systemen. Hier hat das Team um Gordon in den vergangenen Jahren großartige Arbeit geleistet. Unsere offenen Softwareplattformen erlauben inzwischen eine tiefe Integration auch in Fremdsysteme.  


 PROZESSTECHNIK:   Wie funktioniert das konkret und welche Rolle spielt darin die COMOS-Software?

Gordon Meng: COMOS ist eine integrierte Softwarelösung, die ursprünglich für die Anlagenplanung entwickelt wurde, heute aber für das gesamte Anlagen- und Lebenszyklusmanagement in der Prozessindustrie eingesetzt werden kann. Wir können Informationen aus ganz unterschiedlichen Quellen erfassen und zusammenführen. Kombiniert mit Daten aus dynamischen Quellen im Automatisierungssystem kann dies genutzt werden, um einen optimalen Betrieb zu ermöglichen. Dadurch kann das Betriebs- und Wartungspersonal über eine mobile Anwendung mit umfassender statischer und dynamischer Datenunterstützung Entscheidungen vor Ort treffen.

Andoni Gonzalo: COMOS ist ein wichtiges Element unseres Digitalisierungs-Portfolios – neben vielen anderen. Wesentlich ist, dass wir die Integration mit anderen Datenquellen ermöglichen, um so einen Evergreen Digital Twin zu erzeugen. 

Jan Rougoor: Wichtig ist aus meiner Sicht, dass wir den Digitalen Zwilling über den gesamten Lebenszyklus der Anlage für verschiedene Aspekte nutzen können: Beispielsweise erfassen unsere gPROMS-Modelle in der Polyethylen-Produktion tiefes Prozesswissen in Form von hochgenauen prädiktiven Prozessmodellen. Dadurch können wir Anlagenbetreiber bei der Erkundung von Szenarien und bei Entscheidungen zur Prozessführung effektiv unterstützen. Der modellprädiktive Regler hilft hier dabei, den Energieeinsatz bei maximalem Durchsatz zu minimieren. Ein Beispiel dafür, wie dieselbe Digital-Twin-Technologie in verschiedenen Aspekten genutzt werden kann. 


 PROZESSTECHNIK:   Neue Technologien stoßen in der Regel zunächst auf Skepsis uns Widerstand. Was sollten Betreiber tun, um die Akzeptanz für die Digitalisierung zu stärken?

Jan Rougoor: Auch klassische Automatisierungstechniken hatten dieses Problem: Am Nutzen und der Zuverlässigkeit eines PID-Reglers oder später eines modellprädiktiven Reglers zweifelt heute niemand mehr. Es geht bei der Digitalisierung darum, Funktionspakete zu schnüren und das Vertrauen in diese Technologie voranzubringen. Ein erster Schritt ist die Unterstützung des Anlagenpersonals, indem Daten bereitgestellt werden. So kann Vertrauen wachsen. 

Wenn die Daten des digitalen Zwillings erst einmal zur Verfügung stehen, dann kann man darauf aufbauen und Funktionen in Form von Apps entwickeln, die Daten neu kombinieren – so ist es möglich, den Nutzen für den Anlagenbetrieb Schritt für Schritt zu steigern.


Vielen Dank für das Interview!