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Zukunftssicherheit für Bestandsanlagen 

Effiziente Digitalisierung – Schritt für Schritt 

In neuen Anlagen ist Digitalisierung längst Standard. Deutlich größerer Nutzen entsteht allerdings in Bestandsanlagen, denn diese bilden das eigentliche Rückgrat der Prozessindustrie. Mit dem Ansatz „Digital Brownfield Enablement“ werden solche Anlagen schrittweise digitalisiert, um möglichst früh Return-on-Invest zu erzeugen, ohne die langfristige Strategie aus den Augen zu verlieren.

Der Wettbewerb ist hart und die Veränderungsgeschwindigkeit halsbrecherisch: Ob Chemie, pharmazeutische Industrie oder die Lebensmittelherstellung – Veränderungen auf den Energie- und Rohstoffmärkten, neue Kundenanforderungen oder neue Wettbewerber zwingen Betreiber von Prozessanlagen dazu, ihre Geschäftsprozesse und Produktion laufend zu optimieren. Stand gestern noch das Optimierungsziel Anlagenverfügbarkeit ganz oben, geht es heute vielleicht schon darum, einen Betrieb in Teillast wirtschaftlich optimal zu steuern. Gerade vor dem Hintergrund der aktuellen Energiekrise wird es für die Unternehmen der Prozessindustrie zunehmend schwierig, ihren Anlagenbestand über Neuinvestitionen zu modernisieren. Auch deshalb müssen die Unternehmen ihr Anlagenvermögen mehr denn je hüten und pflegen, um wettbewerbsfähig zu bleiben.

Ein weiterer Aspekt sind immer komplexere Abhängigkeiten: Änderungen in der Lieferkette – ob beim Bezug von Rohstoffen oder in der Logistik hin zum Kunden – sind heute ebenfalls an der Tagesordnung und müssen optimal gestaltet werden. So entstehen beispielsweise in der künftigen Kreislaufwirtschaft, wenn Produkte am Ende ihres Lebenszyklus wieder zu Rohstoffen werden, enorm komplexe Abhängigkeiten zwischen allen Akteuren entlang der Wertschöpfungskette – und diese lassen sich kaum noch mit traditionellen Ansätzen der Betriebsführung und Prozessautomatisierung bewältigen. Dasselbe gilt auch für das Erreichen von Nachhaltigkeitszielen (ESG), zu denen sich inzwischen die meisten Unternehmen der Prozessindustrie verpflichtet haben.

Digitalisierung ist eine Notwendigkeit

In der Prozessautomatisierung lautet ein Grundprinzip: Man kann nur das regeln, was zuvor gemessen wurde. Was für die Shop Floor-Ebene gilt, trifft auch auf Geschäftsprozesse zu: Informationen aus Daten bilden die Grundlage für alle Entscheidungen. Die Aufgabe besteht also darin, Daten aus allen Ebenen der Informationspyramide – von der Sensor-Aktor-Ebene im Feld über die Prozess- und Betriebsleitebene bis hin zur Unternehmensebene – nutzbar zu machen, und sogar darüber hinaus. Dass dies nicht mehr mit Klemmbrettern und manueller Eingabe funktionieren kann, dürfte spätestens hier einleuchten: Digitalisierung tut not – aber nicht nur die Digitalisierung einzelner, isolierter Aufgaben und Abläufe. Die Systeme der Informationspyramide müssen sinnvoll miteinander verknüpft werden.

„Es geht darum, die unterschiedlichsten Datenquellen zu verbinden – über den gesamten Lebenszyklus einer Anlage, über Informationsebenen und auch über Unternehmensgrenzen hinweg“

erklärt Jan Rougoor, verantwortlich für das Software-Produktmanagement für die Prozessindustrie. 

Der Komplettanbieter für Prozessautomatisierungstechnik hat sich vorgenommen, Unternehmen der Prozessindustrie dabei zu unterstützen, die Effizienz der Anlage durch den Einsatz digitaler Technologien zu verbessern. Neben der konsequenten Digitalisierung neuer Anlagen spielt der Einsatz existierender Anlagen (Brownfield) eine wesentliche Rolle. Denn insbesondere in der Prozessindustrie werden Produktionsanlagen zum Teil über Jahrzehnte betrieben: „Die heute existierenden Raffinerien arbeiten zum Teil bereits schon mehr als 50 Jahre“, veranschaulicht Rougoor. 

Die gute Nachricht: Die meisten Daten, die für die Digitalisierung bestehender Anlagen benötigt werden, sind bereits vorhanden – sie müssen lediglich für Optimierungsmaßnahmen nutzbar gemacht werden. „Aktuell werden lediglich 20 Prozent der verfügbaren Daten genutzt“, weiß Gordon Meng, Leiter der Siemens Software-Einheit in China. Obwohl beispielsweise Sensoren und Aktoren heute bereits eine Vielzahl an wertvollen Daten erfassen, ist in der Regel nur das nutzbar, was von der übergeordneten Steuerung abgerufen wird. Auch Daten aus der Planung – beispielsweise Verfahrens-Fließbilder, die sogenannten „P&IDs“, enthalten wertvolle Informationen, die bislang aber häufig während der Betriebsphase nicht digital vorlagen. 

Schritt für Schritt zum digitalen Zwilling

Im Zeitalter von Industrie 4.0 und in der digitalen Transformation von Prozessanlagen hat sich für die Digitalisierung von Produktionseinheiten ein Konzept als Dreh- und Angelpunkt herauskristallisiert: der digitale Zwilling. Gemeint ist damit eine virtuelle Nachbildung einer tatsächlichen Industrieanlage, die jeden Aspekt widerspiegelt: von Maschinen und Anlagen bis hin zu Prozessen und Abläufen. Das Konzept des digitalen Zwillings hat seine Wurzeln in der Luft- und Raumfahrt und in der Fertigungsindustrie, wo es zur Erstellung virtueller Prototypen von Flugzeugen und Produkten verwendet wurde. Der digitale Zwilling ist allerdings nicht auf eine Branche beschränkt. Im Kern ist ein digitaler Zwilling mehr als nur ein 3D-Modell oder eine Simulation. Er ist ein dynamisches, datengesteuertes Abbild, das Echtzeitinformationen von Sensoren, IoT-Geräten und bestehenden Anlagensystemen erfasst. Dieser digitale Doppelgänger spiegelt nicht nur die physischen Attribute der Anlage wider, sondern bildet auch ihr Verhalten nach und ermöglicht es Betreibern, Ingenieuren und Datenanalysten, Prozesse auf völlig neue Weise zu überwachen, zu steuern und zu optimieren.

Zu den konkreten Anwendungen, in denen der digitale Zwilling Nutzen stiften kann, gehört beispielsweise die präventive Wartung: Durch die kontinuierliche Überwachung von Anlagen und Prozessen kann der digitale Zwilling vorhersagen, wann ein Maschinenausfall wahrscheinlich ist, was eine vorausschauende Wartung ermöglicht. Ausfallzeiten werden minimiert und kostspielige Reparaturen vermieden. Ein weiteres Beispiel ist die Prozessoptimierung: Datenanalysen in Echtzeit ermöglichen die Feinabstimmung von Prozessen, wodurch Effizienz, Qualität und Ressourcennutzung verbessert werden. Der digitale Zwilling wird zu einem virtuellen Sandkasten für das Experimentieren mit Prozessverbesserungen. Auch für Schulung und Simulation kann der digitale Zwilling eingesetzt werden: Er dient als Übungsfeld für Bediener und Ingenieure und ermöglicht es ihnen, sich in einer risikofreien Umgebung mit dem Anlagenbetrieb und der Fehlerbehebung vertraut zu machen.

Überhaupt gehören die Verbesserung der Sicherheit und das Verringern von Prozessrisiken zu den größten Nutzenpotenzialen der Brownfield-Digitalisierung: „Durch Digitalisierung werden Anlagenbetreiber in die Lage versetzt, ihre Prozesse besser zu überwachen: Wartungsarbeiten können so geplant werden, dass das Personal nicht nur optimal vorbereitet ist, sondern sich auch nur so lange in einem Gefahrenbereich aufhalten muss, wie unbedingt notwendig“, nennt Andoni Gonzalo, der bei Siemens für die Digitalisierungslösung PlantSight zuständig ist, ein konkretes Beispiel. Der Ansatz erlaubt es, aus 2D-Zeichnungen, 3D-Modellen und Tag-Informationen einen kontextualisierten digitalen Zwilling zu erstellen.

Neue Technologien nutzbar machen

„PlantSight“ heißt eines von zahlreichen Elementen, die Siemens im Rahmen des Brownfield Digital Enablement-Ansatzes nutzt. „Über die in der Prozessindustrie typischen Anlagen-Betriebszeiten von 20 bis 30 Jahren kann Digitalisierung zu erheblichen Kosteneinsparungen führen“, ist Gordon Meng überzeugt. Meng verantwortet global das Lösungsgeschäft Brownfield Digital Enablement und kennt das enorme Potenzial in diesen Anlagen: „Durch den Einsatz eines digitalen Zwillings können wir langfristig eine Effizienzsteigerung von bis zu 20 Prozent erzielen.“ Ein Schätzwert, den auch Jan Rougoor bestätigt: „Der schnelle Zugang zu relevanten Daten ist der Schlüssel – auch um neue Technologien für den Anlagenbetrieb nutzbar zu machen.“ 

Neben der Planung von Instandhaltungseinsätzen verspricht auch die vorausschauende Wartung einen hohen Nutzen: Die Auswertung von Sensordaten und deren Analyse im Kontext von Anlagenzustand und historischen Zustandsdaten kann dazu genutzt werden, um Ausfallzeiten und Wartungskosten zu verringern. Zudem ist es möglich, auf Basis digitaler Technologien komplexe Prozesse in Echtzeit zu optimieren und dadurch die Produktqualität zu steigern und den Einsatz von Ressourcen und Energie zu verringern. Das hilft nicht nur dabei, Kosten zu reduzieren, sondern auch den Ausstoß von Treibhausgasen. Deren Bilanzierung im Rahmen steigender Anforderungen an die Nachhaltigkeit ist ein weiterer Aspekt, der sich nur durch konsequente Digitalisierung lösen lässt. 

Zudem ermöglicht es Digitalisierung Technologie- und Handlungsoptionen für die Zukunft zu erschließen: Mehr und mehr wird künftig künstliche Intelligenz dazu genutzt werden, um aus Betriebsdaten bisher verborgene Erkenntnisse über den Prozess zu gewinnen und datengestützte Entscheidungen zu unterstützen. Und noch ein weiteres Zukunftsfeld setzt die Digitalisierung voraus: Autonome Anlagen, die weitgehend ohne Betriebspersonal auskommen und die aus der Ferne betrieben und überwacht werden können. Doch wie lassen sich solche Effizienzgewinne konkret erreichen? Und wie kann es gelingen, den Aufwand für die Digitalisierung zu reduzieren?


Schneller RoI und langfristige Ziele

Wesentlich für das Gelingen von Digitalisierungsprojekten ist eine konsequente Nutzenbetrachtung: „Man sollte sich von Anfang an auf die Bereiche konzentrieren, in denen der größte Nutzen entsteht“, empfiehlt Jan Rougoor. Auch wenn Unternehmen einen schnellen Return-on-Invest anstreben, sollten sie außerdem den langfristigen Horizont nicht aus den Augen verlieren: „Je länger der Investitionshorizont, desto größer die Rendite“, weiß Andoni Gonzalo.

Der Nutzen durch Digitalisierung entsteht für Prozessbetreiber durch Einsparungen beim Rohstoff- und Energieeinsatz, aber vor allem auch durch eine vorausschauende und zustandsbezogene Wartung: In der digitalisierten Anlage sind laufend Zustandsinformationen verfügbar und lassen sich Szenarien für ein sich abzeichnendes Versagen von Anlagenkomponenten durchspielen. Durch gezieltes Eingreifen ist es möglich, ungeplante Anlagenstillstände zu vermeiden – dadurch steigt die Produktivität der Anlage. Zudem unterstützen es digitale Applikationen wie der „Digital Worker“ das Personal in der Feldebene indem dieser per Tablet-Computer vor Ort einfachen Zugriff auf alle für seine Arbeit benötigten Informationen erhält. Dadurch steigt nicht nur die Qualität der Arbeiten, auch der Personaleinsatz vor Ort wird effizienter und die Sicherheit steigt. 

Dieser Ansatz zahlt sich nicht nur in der Instandhaltung aus, sondern kann auch in ganz anderen Bereichen Nutzen stiften: Zum Beispiel in der pharmazeutischen Produktion im Reinraum. Dort unterstützet Tools wie der Digital Worker das Personal dabei, ihren Reinraumeinsatz so vorzubereiten, dass keine unnötigen Schleusen-Schritte notwendig werden.

In Anlagen der (Petro-)Chemie hilft die Digitalisierung dabei, den Personaleinsatz schrittweise zu reduzieren – bis hin zu komplett autonomen Anlagen, wie sie beispielsweise bei Luftzerlegern bereits weitgehend gängige Praxis sind. Dadurch lassen sich auf Sicht gleich mehrere Probleme gleichzeitig lösen: Das bestehende Sicherheitsrisiko für Menschen in gefährlichen Umgebungen sowie der zunehmende Fachkräftemangel.  

Doch auch dieses Fernziel beginnt mit dem ersten Digitalisierungsschritt. Mit dem Brownfield Digital Enablement ist es möglich, die Digitalisierung klein zu beginnen und Schritt für Schritt Nutzen zu generieren – und dadurch mit neuen Technologien das Potenzial von Brownfield-Anlagen für die Zukunft zu entfesseln. 

Brownfield Enablement: So entsteht ein digitaler Zwilling

Der digitale Zwilling einer bestehenden Anlage entsteht in drei Phasen: Zunächst werden die Objektstrukturen aufgebaut und Daten aus Dokumenten sowie aus der Anlage aufbereitet und validiert. Im nächsten Schritt werden 2D-Daten analysiert und verknüpft, Hotspots identifiziert und das 3D-Modell importiert. In der dritten Phase werden 2D-Daten und 3D-Datenmodelle verknüpft und in das datenzentrierte Software-Werkzeug COMOS konvertiert. So entsteht eine „single source of truth“ – das System fungiert im digitalen Zwilling als Plattform, in der alle beteiligten Systeme integriert werden.

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Autor


Armin Scheuermann

Freier Fachjournalist