MESSE SPECIAL ACHEMA

 Mehr Effizienz bei geringeren Kosten 

High Performance Computing in der Prozessindustrie


Geopolitische Verwerfungen, Rohstoffknappheit sowie steigende Energiepreise und Engpässe in den weltweiten Lieferketten stellen Industrieunternehmen vor große Herausforderungen: Sie müssen ihre Produktentwicklungs- und Fertigungsprozesse beschleunigen und noch ressourcensparender als bisher entwickeln. High Performance Computing (HPC) schafft genau dafür neue Möglichkeiten, weil es das Simulieren und Modellieren von Produkten unter realen Bedingungen erlaubt. Ein Interview mit dem HPC- und KI-Experten Dr. Lukasz Miroslaw* von Microsoft Schweiz erläutert den Nutzen von HPC speziell in der Prozessindustrie.

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Interviewpartner:

Dr. Lukasz Miroslaw 
Expert für High Perfomance Computing (HPC) und KI bei Microsoft Schweiz

 PROZESSTECHNIK:  Warum ist HPC für die Prozessindustrie ein Game-Changer? 

Dr. Miroslaw: High Performance Computing bietet der Branche überhaupt erst die Möglichkeit, ihre Entwicklungsprozesse zu digitalisieren – und zwar «ab initio», also von Anfang an. Sie können zum Beispiel über Simulationen auf molekularer Ebene nicht nur physikalische und chemische Eigenschaften, sondern auch die Reaktivität von Materialien abbilden. Das erweitert die Materialforschung um neue Möglichkeiten und bringt Mehrwerte für Entwicklungsteams und Management. Dazu gehören kürzere Entwicklungszeiten, mehr Einblicke in die chemischen Reaktionen und weniger Experimente im Labor. Insgesamt führt der Einsatz von HPC nicht nur zu schnelleren Produktzyklen, sondern auch zu einer besseren Qualität der Produkte.


 PROZESSTECHNIK:   Wie kann HPC für Wettbewerbsvorteile sorgen?

Dr. Miroslaw: Viele Firmen haben schon verstanden, wie sie in der Materialforschung Produkte als kontinuierliche Medien simulieren können, deren charakteristische Eigenschaften wie Dichte oder Elastizität durchgehend sind. Auf der anderen Seite steht die Simulation von Materialien auf atomarer Ebene, die auch möglich ist, aber nur für vereinfachte Probleme. Leider ist die molekulare Modellierung industrierelevanter Applikationen besonders schwierig und oft sogar unlösbar, weil der Rechenaufwand massiv mit der Anzahl der Atome steigt.

Das ist der Grund, warum wir Simulationen und unsere Methodik mit experimentellen Methoden wie der Transmissions-Elektronen-Mikroskopie kombinieren, um die Anzahl der möglichen Lösungen zu begrenzen. Für die Simulationen ist aber eine skalierbare, sichere und robuste HPC-Infrastruktur zwingend erforderlich, um die Resultate auch in akzeptabler Zeit zu erhalten. Eine Simulation benötigt eine HPC-Infrastruktur mit sehr viel CPU- oder GPU- Leistung, Konnektivität mit niedriger Latenz und eine hohe Bandbreite zwischen den Servern und effizienten Speichersystemen.

Eine solche Infrastruktur braucht Investitionen, wenn sie On-Premises stattfinden soll. Viele Unternehmen scheuen diesen Aufwand aber und nutzen daher lieber eine HPC-Umgebung aus der Cloud. Wir als Microsoft bieten in Azure eine solche Infrastruktur, und Unternehmen können sie für ihre Projekte minutengenau mieten.


 PROZESSTECHNIK:   Beschreiben Sie bitte einmal, wie konkret HPC in der Materialforschung helfen kann, Abläufe und Entwicklungszyklen zu beschleunigen.

Dr. Miroslaw: Lassen Sie mich das an einem Beispiel erzählen: Mit unserem strategischen Partner, dem Schweizer Molecular Modelling Laboratory (MML), haben wir eine Technologie entwickelt, über die sich Reaktionsbedingungen organischer und anorganischer Werkstoffe durch molekulare Dynamik und Monte-Carlo-Simulationen auf Basis der Dichtefunktionaltheorie und experimenteller Methoden optimieren lassen. So ist es besser möglich, diese komplexen Reaktionen zu modellieren. Damit gewinnen Unternehmen Zeit im Herstellungsprozess, besonders in der Formulierungsphase beispielsweise von Klebstoffen oder Beschichtungen, aber auch bei Medikamenten.

Über «Ab-initio-Simulationen» sind zudem Untersuchungen verschiedener physikalischer und chemischer Adsorptionseffekte mit viel höherer Auflösung möglich. Das sorgt für ein besseres Verständnis für die Reaktivität dieser Produkte mit unterschiedlichen Oberflächen.

Wir können auch dabei helfen, die mechanischen, chemischen und strukturellen Eigenschaften von Klebstoffen, Polyurethan-Additiven und Beschichtungen im Nanometer-Maßstab «in silico», also im Rechner, zu untersuchen und den Reaktionsgrad mit anderen Materialien, aber auch unter anderen physikalischen Bedingungen wie Temperatur oder einem bestimmten Feuchtigkeitsgrad abzuschätzen. 

Vor Kurzem haben wir einen Durchbruch dabei erzielt, Materialien mit Hunderttausenden von Atomen durch eine Parametrisierung der räumlichen Anordnung von Atomen oder Atomgruppen zu modellieren. Damit konnten wir die Komplexität der Modelle deutlich reduzieren. Auf dieser Basis sind nun verschiedene branchenrelevante Anwendungen möglich. Unternehmen können die Technologie einfach und schnell als Service in ihren internen F&E-Teams einsetzen. Und mit cloudbasiertem HPC können wir unseren Kunden helfen, ihre Simulation effizient zu skalieren und zu beschleunigen und so Resultate in deutlich kürzerer Zeit zu erzielen.


 PROZESSTECHNIK:   Wie sehr kann HPC die Time-to-Market reduzieren? 

Dr. Miroslaw: Zunächst einmal: Diese Methodik funktioniert für fast jeden chemischen Stoff, den man als molekulare Struktur definieren kann. Mit ihr konnten wir zum Beispiel für ein Pharmaunternehmen die Stresstests einer Amorphous Solid Dispersion (ASD) auf ganze zwei Tage verringern. Früher dauerten diese Tests zwei bis sechs Monate!

Wir haben zusätzlich und ausschließlich digital evaluiert, welche Kombination von Polymer-Hilfsstoffen und Active Pharmaceutical Ingredients (API) die beste Stabilität im Sinne von Phasentrennung und Löslichkeitsgrenze bringt. So konnten wir am Ende nicht nur die Produktzyklen verkürzen, sondern auch zusätzliche Deskriptoren berechnen. Im Labor wäre das so überhaupt nicht machbar gewesen.

Wir haben auch kalziumkarbonate Beschichtungen simuliert, um ihre Absorption und Reaktivität besser verstehen zu können. Damit war es möglich, die Anwendungsleistung der Beschichtungen im Voraus abzuschätzen, die Laborkosten zu senken und einen tieferen Einblick in das Produkt und seine Möglichkeiten zu erhalten – und zwar vor der eigentlichen Fertigung. Schließlich ist es möglich, über die Methodik die gesundheitlichen Risiken für Mitarbeitende in F&E deutlich zu verringern, weil wir ihre Exposition mit gefährlichen Substanzen deutlich senken.


 PROZESSTECHNIK:   Wie lässt sich HPC in der Prozessindustrie noch sinnvoll nutzen?

Dr. Miroslaw: Unternehmen aus der Prozessindustrie mit einem hohen Bedarf an hoch performanten Berechnungen verstehen schon jetzt sehr gut, wie sie von HPC-Technologien profitieren können: In einer IDC-Umfrage haben 81 Prozent der befragten Industrieunternehmen HPC als einen Game-Changer für ihre Produkt- und Prozessinnovationen bezeichnet. Unternehmen mit ersten Erfahrungen in der Nutzung von HPC stimmen sogar zu 96 Prozent zu. Und es ist schon jetzt auch möglich, einfach auf eine cloudbasierte HPC-Infrastruktur zuzugreifen und dort sehr komplexe Simulationen, Modellierungen und Datenanalysen durchzuführen. Über den großen Geschwindigkeitsvorteil von HPC gegenüber traditioneller Datenverarbeitung können zudem sehr viel mehr Simulationen abgearbeitet werden, was die Qualität der Ergebnisse deutlich steigert.

HPC aus der Cloud öffnet Unternehmen aus der Prozessindustrie Einsatzszenarien, die bisher nur wissenschaftlichen Einrichtungen mit Supercomputern vorbehalten waren. Die Leistung steht On-Premises-Infrastrukturen in nichts nach, die Sicherheit ist deutlich besser. Durch die Preismodelle bei voller Transparenz können die Unternehmen zudem im Voraus planen, welche Projekte sie in die Cloud schieben und welche nicht. In der Cloud gehen sie auch den Lieferproblemen bei Hardware und Chips aus dem Weg. Und, im Moment nicht ganz unwichtig: Die Energiekosten sind schon im Preis inbegriffen – so können die Unternehmen hohe Energiepreise besser managen.


 PROZESSTECHNIK:   Hat die Prozessindustrie diese Möglichkeiten nicht nur erkannt, sondern sogar schon umgesetzt?

Dr. Miroslaw: Die Implementierung von HPC ist besonders in der DACH-Region schon ziemlich fortgeschritten. Der IDC-Studie zufolge evaluieren bereits 21 Prozent konkret die Optionen einer HPC-Infrastruktur, 39 Prozent planen die Anschaffung oder haben einen Piloten gestartet. Weitere fast 30 Prozent haben sogar schon begrenzte oder umfassende Implementierungen durchgeführt. Das sind Zahlen, die mich sehr optimistisch stimmen: Die Branche hat den Nutzen erkannt und arbeitet daran, HPC einzusetzen.

Auf der Achema vom 22. Bis 26. August 2022 in Frankfurt werden wir einige erfolgreiche Projekte aus der Prozess- und Pharmaindustrie präsentieren. Auf unserem Stand C43 in Halle 11.0 zeigen wir zudem mit Partnern wie dem MML oder PTC die genannten Szenarien für Simulationen in der Entwicklungsphase und weitere Anwendungsfälle, die deutlich machen, wo Azure HPC für Mehrwerte sorgen kann.


Dr. Miroslaw, vielen Dank für das Interview!

Standort




Halle 11.0 Stand C43